Bericht und Bilder: Streutal-Journal / Carmen Hahner (veröffentlicht am 19.03.2020)
Von Berlin in die Rhön: Am Donnerstag, 11. März, war auf Einladung des SPD-Kreisverbandes Rhön-Grabfeld mit dem stellvertretenden SPD-Bundesvorsitzenden und Juso-Bundesvorsitzenden Kevin Kühnert ein äußerst prominenter Gast nach Bad Neustadt angereist. Egal ob Anne Will oder Markus Lanz, ob Sandra Maischberger oder Maybritt Illner: Wer ein Fan von TV-Talkshows ist, kommt an dem Gesicht von Kevin Kühnert momentan nicht vorbei. Der Juso-Chef gilt als einer der größten Hoffnungsträger, den die arg gebeutelte Sozialdemokratie aktuell besitzt. Er ist jung, eloquent und bisweilen auch umstritten.
Herr Kühnert, wir sind es nicht unbedingt gewohnt, dass die große Politik bei uns vorbeischaut. Was führt Sie nach Bad Neustadt?
Ich habe in den letzten Wochen und Monaten über 40 Termine dieser Art wahrgenommen, um die Kommunalpolitik vor Ort zu unterstützen, denn diese ist das Rückgrat der großen Politik. Wenn mich dann noch ein so junger Politiker wie René (van Eckert, Anm. d. Red.) einlädt, komme ich umso lieber.
Waren Sie schon einmal in der Rhön bzw. in der Nähe?
In der Rhön selbst noch nicht, auch nicht in Bad Neustadt. Neben Würzburg war ich aber schon in Coburg zum Handball. Ich bin ja ein großer Handball-Fan.
Hier im Landkreis Rhön-Grabfeld sind diverse Automobilzulieferer beheimatet. Brexit, Corona und der Klimawandel setzen der deutschen Exportwirtschaft und insbesondere der Automobilindustrie kräftig zu. Wie schätzen Sie generell die wirtschaftliche Entwicklung für das Jahr 2020 ein? Hat die Automobilbranche in Deutschland noch eine Zukunft?
Ja, hat sie! Aber nur, wenn wir endlich dazu kommen, in Innovationen zu investieren. Wasserstoff zum Beispiel ist so ein Kraftstoff der Zukunft, auf den die Automobilbranche stärker setzen sollte. Denn Autos werden nur dann weiterverkauft, wenn sie für den Verbraucher attraktiv sind, was mit dem Verbrennungsmotor nicht länger der Fall sein wird.
Bei der Tarifbindung rutscht Deutschland kontinuierlich nach unten. Bayern ist da Spitzenreiter. Weniger als 50 Prozent der Arbeitsplätze sind hier tarifgebunden, in Österreich sind es über 90 Prozent. Was kann die Politik tun, damit wir wieder geordnete Verhältnisse erreichen?
Ich schlage konkret vor, dass es steuerliche Vergünstigungen gibt für Unternehmen, die zur Tarifbindung zurückkehren. Aber auch für Beschäftigte, die sich einer Gewerkschaft anschließen, damit die Tarifautonomie wieder gestärkt werden kann.
Eine gesicherte Energieversorgung spielt für die Wirtschaft eine zentrale Rolle. Allerdings ist Deutschland da anscheinend in einer absoluten Sackgasse: Kohle- und Atomstrom werden von der Bevölkerung abgelehnt, neue Stromtrassen und Wasserkraftwerke vor Ort massiv bekämpft. Windkraftanlagen sind in Bayern durch die 10H-Regelung so gut wie gar nicht mehr durchsetzbar. Woher soll der dringend notwendige Strom zukünftig kommen?
Ganz klar muss er aus den erneuerbaren Energien kommen. Die richtige Antwort wäre eine stärkere finanzielle Beteiligung von Kommunen und Privatleuten bzw. Genossenschaften an den Gewinnen, die durch erneuerbare Energien erzielt werden. Für viele Menschen sind Windkraftanlagen kein ästhetisches Problem, vielmehr stellen sie sich die Gerechtigkeitsfrage. Getreu dem Motto: Wir tragen die Lasten, die anderen bekommen die Gewinne.
Müssen wir Angst haben, dass die Flüchtlingskrise an der türkisch-griechischen EU-Außengrenze den rechten Hasspredigern weiteren Zulauf bringt?
Ja, mir macht das große Sorgen. Und wenn Konservative sagen, dass sich die Flüchtlingskrise 2015 nicht wiederholen darf, sehe ich das ganz genauso. Vor allem, was den Hass und die Spaltung der Gesellschaft in dieser Frage angeht. Angesichts der Not der Flüchtlinge in Griechenland stößt man aber auch Menschen vor den Kopf, wenn man nicht einmal bereit ist, besonders schutzbedürftige Kinder und Jugendliche aus dieser menschenunwürdigen Situation herauszuholen. Für mich jedenfalls sind diese Bilder von kranken, traumatisierten Kindern in den Flüchtlingslagern nur schwer zu ertragen.
Wie sieht für Sie die Mobilität der Zukunft aus, speziell für die Menschen im ländlichen Raum?
Wir brauchen einen viel stärkeren Umstieg auf den öffentlichen Nahverkehr, aber der Markt regelt es nicht. In der SPD diskutieren wird gerade ein völlig anderes Konzept zur Finanzierung des ÖPNV. Dies zielt darauf ab, von einer Ticket- zu einer Abgabenfinanzierung zu kommen. Etwa mit einer bundesweiten Mobilitätsabgabe, die sich am Einkommen und ÖPNV-Angebot vor Ort orientiert. In dieser Solidargemeinschaft zahlen starke Schultern mehr, schwache Schultern weniger. Ein Musterbeispiel für den kostenlosen öffentlichen Nahverkehr ist Tallinn, die Hauptstadt von Estland.
Herr Kühnert, zuletzt würde ich Ihnen gerne noch einige persönliche Fragen stellen. Hatten Sie bereits als Kind Interesse an Politik? Was waren Ihre ersten politischen Schritte?
Ich war schon früh politisch interessiert. Mit 14 Jahren wurde ich zum Schülersprecher an meinem Lankwitzer Gymnasium gewählt und habe mich als Schülervertreter u. a. dafür eingesetzt, dass die Schulanfangszeiten verändert werden und der Unterricht später als 8.00 Uhr beginnt. Wer ist denn um diese Zeit schon richtig wach? 2005 bin ich dann in die SPD eingetreten. Da war ich 16 Jahre alt.
Wie können Sie mit Kritik umgehen?
Sehr gut, wenn sie sachlich vorgetragen wird.
Welches ist Ihr Lieblingsbuch und warum?
„Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt. Ich habe den Gesamtband von Dürrenmatt im Regal stehen, in dem ich gerne blättere, um zur Ruhe zu kommen.
Haben Sie einen Lieblings-Fußballverein?
Es ist ja bekannt, dass ich ein großer Fußballfan bin. Neben meiner Liebe zu Tennis Borussia Berlin schlägt mein Herz auch für Arminia Bielefeld. Ich habe eine Dauerkarte für die Arminia und schaffe es in der Regel auch zu jedem zweiten Heimspiel. Sehr bitter ist es für mich als Fußballfan, dass wegen der Corona-Krise Stadionbesuche momentan nicht möglich sind.
Haben Sie noch weitere Hobbys bzw. Interessen?
Ja, ich bin auch handballbegeistert. 15 Jahre lang habe ich als Jugendlicher beim VfL Lichterade selbst aktiv Handball gespielt.
In welcher Position?
Ich war Kreisläufer.
Was machen Sie an einem Samstagnachmittag um 15.30 Uhr, wenn kein politischer Termin oder eine andere Verpflichtung ansteht?
Ich sitze entweder in einem Fußballstadion oder in einer Sporthalle, um ein Fußball- oder Handballspiel anzuschauen. Stadionbesuche sind für mich ein wunderbarer Ausgleich zur Politik.
Letzte Frage, Herr Kühnert: Wie heißt der nächste Bundeskanzler?
(schmunzelt) Wir haben zwar noch keinen Spitzenkandidaten, aber die Umfragen und der Aufwärtstrend der SPD stimmen mich optimistisch, dass dieser aus den Reihen der SPD kommt.